In der 890-seitigen Aufarbeitung mit dem Titel „Die ganze Geschichte der Mafia“ des englischen Historikers John Dickie taucht das Banditentum in Sardinien nicht auf. Erwähnt wird allein eine 24-jährige Sardin namens Emanuela Loi, die als freiwillige Polizeibeamtin auf dem italienischen Festland in Palermo beim Anschlag auf Richter Paolo Borsellino ums Leben kam. Borsellino war einer der anerkanntesten Antimafia-Kämpfer, das Staatsbegräbnis seiner fünf Leibwächter, darunter die Sardin Loi, fand in der Kathedrale von Palermo statt.
Der Unterschied zwischen der Mafia auf dem italienischen Festland und dem Brigantentum – der Herrschaft der Banditen – auf der Insel Sardinien ist grundlegend. Das Brigantentum war die gewalttätige Antwort eines Teils der ansässigen Bevölkerung auf das unterdrückende Regime der herrschenden Klasse auf der Insel. Der Gesetzlose versteckte sich in den Bergen und lebte von Raub und Erpressung. Die Mafia war und ist anders strukturiert: Die „Ehrenwerte Gesellschaft“, deren Gefolgschaft in der Cosa Nostra, der Camorra und der ‚Ndrangheta unter dem Schweigegelübde der „Omertá“ ihren kriminellen Geschäften nachging, durchsetzte das Gewebe der italienischen Gesellschaft. Die Mafia wurde so selbst eine wirtschaftliche und politische Macht.
Was die Brutalität angeht, standen die sardischen Banditen den Mordbuben vom Festland in nichts nach. Dabei schält sich ein Ort heraus, der heute noch als „Dorf der Banditen“ geläufig ist. Orgosolo liegt wenige Kilometer südlich von Nuoro, Hauptstadt der Provinz, wichtiges Verwaltungszentrum und Tor zur Barbagia, die mehrfach gegliederte felsige Hochebene bei von Nuoro. Orgosolo wurde im SPIEGEL 1954 als das „berüchtigte Räubernest Sardiniens“ bezeichnet.
Tatsächlich wurde in Orgosolo am 11. Januar 1953 von den sogenannten Gesetzlosen die „vendetta“ (Blutrache) und das Morden abgeschworen – ein jeder der Banditen hatte ein Kruzifix in der Hand. Der Schwur hielt allerdings nicht lange an. Auf der Straße von Lanusei nach Fonni wurde der Postbus überfallen. Karabinieri stellten die Täter, bei dem Gefecht starb der 27-jährige Polizist Davide Budroni im Kugelhagel. Ermordet wurde mit drei Nackenschüssen auch der 20-jährige Terzo Congiu und bei einem Beschuss einer Streife am 24. Januar 1953 starb ein weiterer Polizist. Der Friede von Orgosolo dauerte nur 19 Tage.
Die Entführung und Ermordung des Straßenbau-Ingenieurs Davide Capra aus Cagliari führte schließlich zu Razzien auf die Banditen. Daran beteiligt war auch das Militär.
Während Politiker darauf hinwiesen, dass das sardische Banditentum eine Folge der verzweifelten sozialen Lage sei, in der sich die Inselbevölkerung befinde, ließen die Banditen weiter die Waffen sprechen. Sie schossen den Initiator des Waffenstillstandes von Orgosolo, den Industriellen Domenico Buscarino, vor den Toren des Dorfes nieder.
Eine der größten Nummern des sardischen Bandentums ist Graziano Mesina. Mesina kam 1942 in Orgosolo zur Welt. Noch ein Kind, wurde er von seinen Eltern in die Berge zu den Hirten geschickt. Bereits im Alter von 14 wurde er wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet. Mit einem Überfall auf eine Polizeistation, den er im Alter von 17 Jahren beging, um sich vor seinen Freunden brüsten zu können, begann die Verbrecherkarriere des schönen Graziano, um den sich im Laufe der Jahre zahlreiche Legenden woben. Zeitschriften hatten über den Banditenkönig berichtet und Bilder veröffentlicht, auf denen er mit perlenbesetzter Pistole zu sehen war. Wenn man Kinder im sardischen Bergland fragte, was sie einmal werden wollten, sagten sie: „Ich will wie Graziano Mesina werden.“ Um ihn entstand ein Mythos, der ihn zum Volkshelden auf Sardinien machte. „König der Berge“ wurde Mesina wegen seines Talents genannt, er entführte Industrielle und Politiker, um sie im steilsten Gebirge der Insel zu verstecken. Gleichwohl genoss er bei seinen Landsleuten so viel Ansehen, dass er 1992 aus dem Gefängnis heraus in einem Entführungsfall vermittelnd eingreifen konnte. Graziano Mesina, der aus Zügen, Kasernen sowie Hochsicherheitsanstalten floh, und mehr als 40 Jahre seines Lebens hinter Gitter zugebrachte, wurde 2013 wegen Drogenhandels festgenommen. Er soll an der Spitze einer Organisation von Drogendealern in mehreren italienischen Regionen tätig gewesen sein.
Clip über Banditen und das Banditentum auf Sardinien:
Sardegna. Il Banditismo, Graziano Mesina, Matteo Boe, Barbagia Rossa
Und heute?
Romantiker fahren nach Orgosolo, um dort – Stichwort Nervenkitzel – noch etwas vom Banditentum zu erfahren. Dort erfährt man allerdings nichts. Orgosolo kann vielmehr „Murales“ (Wandbilder) vorweisen, die nirgendwo anders auf Sardinien politischer sind. Romantiker werten auch Einschusslöcher in Straßenschilder auf dem Weg nach Orgosolo als Beleg für das sardische Brigantentum. Mag sein. Schaut man sich genauer um, sieht man viele Einschusslöcher in Straßenschildern – und zwar in sehr vielen Dörfern. Fragt man bei Einheimischen nach, ob es noch Banditen gibt, bekommt man keine Antwort. Allein erhascht man eine kleine Bemerkung, mehr zufällig. Ist einer einem anderem etwas länger schuldig, kann es sein, dass der Schuldner von einer dritten Person deutlich darauf hingewiesen wird. Ansonsten sind die Sarden, auch ohne „Omertá“, eher schweigsam.
Quellen und weiterführende Literatur:
SPIEGEL, „Die Gesetzlosen“, 24. März 1954
SPIEGEL, „Braver Junge“, Nr. 51/1967
SPIEGEL, „Blut und Tränen“, 26. April 1971
Tagesanzeiger, Schweiz, 10. Juni 2013
Franco Gagnetta: Die Banditen von Orgosolo, Porträt eines sardischen Dorfes, broschiert, Restbestände bei ZVAB ab 32 Euro
Der gleichnamige Film „Die Banditen von Orgosolo“ ist ein italienischer Spielfilm des Regisseurs Vittorio De Seta aus dem Jahr 1961 in Schwarzweiß, der zur Epoche des italienischen Neorealismus gezählt wird
John Dickie: Die ganze Geschichte der Mafia, Fischer-Taschenbuch, 12,99 Euro