Palitzsch

See you, see me.

Turnen, tarnen und dann türmen


Eberhard Gienger und Wolfgang Thüne bei der ARD. 

25 Jahre bewahrte Eberhard Gienger ein Geheimnis. Während der Turn-Europameisterschaft 1975 in Bern verhalf der damalige Reckweltmeister dem achtmaligen DDR-Meister im Turnen, Wolfgang Thüne, zur Flucht in den Westen. Erst zehn Jahre nach dem Mauerfall offenbarte er sich.

Nicht ohne Stolz verteilt Eberhard Gienger, seit September 2002 direkt gewählter CDU-Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Neckar-Zaber, auch heute noch ein kleines Büchlein, das den Titel „Das Abenteuer der Turnkunst“ trägt.

In diesem Buch sind, mit zahlreichen Fotos unterlegt, die sportlichen Erfolge beschrieben, die im Oktober 1974 im bulgarischen Varna in Giengers Weltmeisterschaft am Reck gipfelten. Schon in diesem Wettkampfjahr war der DDR-Sportler Wolfgang Thüne der stärkste Konkurrent des gebürtigen Künzelsauers, der ein Jahr später zur Europameisterschaft in Bern in der Schweiz erneut gegen den Weltmeister antrat.

In dem Buch schreibt Eberhard Gienger: „In Bern war es auch, wo Wolfgang Thüne sich von der DDR-Riege in Richtung Bundesrepublik absetzte. Sein Schritt überraschte uns alle.“ Nur Fluchthelfer Gienger nicht.

Wolfgang Thüne, in der DDR ein Offizier der Nationalen Volksarmee und damit Geheimnisträger, habe in Bern den politischen Auftrag erhalten, ihn zu schlagen, erinnert sich Ginger. Sein Konkurrent habe dazu neue und vor allem schwere Elemente lernen müssen. Dabei brach sich Thüne fast den Hals und der DDR-Turner litt an einer Fersenprellung, die „gesundgespritzt“ wurde. Das Ergebnis in Bern sprach Bände.

Gienger wurde nicht nur Europameister am Reck, sondern auch Zweiter im Mehrkampf. Thüne, dessen Heimatverein der ASK Vorwärts Potsdam war, landete abgeschlagen auf Platz 18, am Reck schafft er es nicht einmal ins Finale. So hatte der Verlierer Degradierung und Repressalien zu befürchten.

Vor dem Finale zur Weltmeisterschaft von links: Gienger, Tsukahara, Thüne und Kenmotsu.

Von da ab nahm die Fluchtgeschichte ihren Lauf. Wolfgang Thüne wartete bei der Abschlussfeier in Bern auf der Toilette auf Gienger. „Gemeinsam überlegten wir dann, wie er nach Deutschland kommen könnte.“

Vertrauen zueinander hatten beide Sportler, weil sie sich zuvor schon bei Wettkämpfen in Moskau und Riga kennengelernt hatten und auch die gleichen Interessen teilten. Beide Sportler sammelten Münzen und tauschten sie aus. „Als er mich um Hilfe bat, habe ich ohne nachzudenken zugesagt“, beschreibt Gienger die damalige Situation.



Die Ergebnistafel von Varna nach der Kür des Siegers. Gienger auf dem ersten Platz, Thüne auf dem zweiten Platz. Für den DDR-Turner ein Resultat mit Folgen.

Als Fluchtfahrzeug diente Giengers Opel Manta. Mit Thüne fuhr man zunächst zum Hotel, wo dieser zunächst auf dem Zimmer verschwand. „Plötzlich“, so Gienger, „wurde aus dem Fenster ein Bündel geworfen“. Kurz danach kam Thüne in einer karierten Jacke durch die Hotelhalle, habe sein Bündel aufgehoben und sei zum Auto gelaufen. „Je näher er kam, desto schneller wurde er“.

Im Wagen saßen vorne neben Gienger ein Kampfrichterwart, im Fond des Fahrzeuges Giengers damalige Freundin und heutige Frau Sibylle, Thüne und ein Masseur. In einer knappen Stunde ging es von Bern zur Grenze nach Basel. Thüne bekam es mit der Angst zu tun. „Wir versicherten ihm, dass an der Grenze nicht geschossen wird“, so Gienger. Am Schlagbaum reichte Gienger dann vier Ausweise durch, als ihn der Beamte nach dem fünften fragte, sagte er, er hole ihn schnell aus einer Jacke, die im Kofferraum liege. Der Beamte winkte ab, während Thüne und Giengers Frau auf dem Rücksitz ein Liebespaar spielten. Da wollten die deutschen Zöllner nicht stören – und winkten das Auto durch.

Thüne wurde in Emmendingen abgesetzt und Gienger fuhr anschließend zur Abschlussfeier nach Bern zurück. Um den Verdacht fern von Gienger zu halten, wurde die Legende erfunden, Thüne sei per Anhalter nach Westdeutschland geflohen. In der Bundesrepublik schloss sich Thüne dem Verein Bayer 04 Leverkusen an und wurde 1977 noch einmal Deutscher Meister (BRD) im Mehrkampf, am Pauschenpferd und im Pferdsprung.

Sensationell sei, dass viele Mitwisser – rund 15 Personen – nach dieser Fluchthilfe geschwiegen hätten, sagt Eberhard Gienger heute. Wenn irgendjemand etwas verraten hätte, hätte er wohl nicht mehr in den Ostblock einreisen dürfen. Dies wäre für den Profi-Sportler fatal gewesen, stand doch damals schon fest, dass die Olympischen Spiele 1980 in Moskau stattfinden würden. Dass diese Spiele wegen des Einmarschs der Sowjetunion in Afghanistan von den USA, der Bundesrepublik, Japan, Kanada, Norwegen und Kenia boykottiert werden würden, habe man 1975 nicht wissen können, so Gienger.

Nach dem Fall der Mauer im Oktober 1989 hätte sich niemand für die Fluchtgeschichte interessiert. „Die hatten damals andere Problem.“ Gewusst hätte die Stasi gar nichts, höchstens Vermutungen angestellt. Ein Beleg ist für Eberhard Gienger seine Stasi-Akte – die nur aus einem Blatt mit bekannten persönlichen Daten besteht.

Den Kontakt zu Wolfgang Thüne hat Gienger nie abreißen lassen. Bei gemeinsamen Veranstaltungen wird das DDR-Unrecht im Sport aufgearbeitet. Und im Rathaus in Garbsen wird am 11. November eine Ausstellung eröffnet, in der Fluchtschicksale von 15 ausgewählten Sportlerpersönlichkeiten gezeigt werden.

Einer davon ist Wolfgang Thüne, dessen Familie nach seiner Flucht jahrelang von der Staatssicherheit überwacht wurde. Thüne selbst verurteilte ein Militärgericht in der DDR zu zwölf Jahren Zuchthaus – in Abwesenheit.


Eberhard Gienger nach seinem Sieg. 

Wolfgang Thüne wurde nach seiner Flucht von der Staatssicherheit der DDR kontrolliert. „Dies hat mich aber nicht tangiert.

Auf die Frage, warum er 1975 in Bern gezielt seinen Konkurrenten Eberhard Gienger wegen einer geplanten Flucht angesprochen habe, muss Wolfgang Thüne nicht lange überlegen. Aus jedem Land hätten bei der Europameisterschaft nur drei Sportler teilnehmen können. „Die Anzahl war also begrenzt und Eberhard Gienger mein erster Ansprechpartner.“

Thüne verweist wie Gienger auf ein gemeinsames Hobby – das Sammeln von Münzen. Wobei es für ihn im Gegensatz zu Gienger ungleich schwerer war, an Münzen aus anderen Ländern heranzukommen. Gienger habe ihm diese Münzen besorgt, und im Gegenzug Münzen aus der DDR bekommen. Dieser Austausch sei jedoch nicht ungefährlich gewesen, so Thüne. „Offiziell war uns der Kontakt, vor allem zu westdeutschen Sportlern, verboten“.
Nach seiner Flucht nach Westdeutschland seien auch Trainer und Funktionäre, die eng mit ihm zusammengearbeitet haben, aus ihren Ämtern entfernt worden, erinnert sich der achtmalige DDR-Turnmeister. Vieles über seine Flucht habe er bis zum Fall der Mauer in „Schubladen“ gesteckt, „nach der Wende hat sich das geändert“.

Und eines macht Wolfgang Thüne ganz deutlich: „Nach der Wende war die politische Aufarbeitung wichtiger als die sportliche Aufarbeitung“.
Nach seiner Flucht habe ihn die Staatsicherheit der DDR versucht zu kontrollieren. In seinen Unterlagen gebe es dazu allerdings, im Gegensatz zu anderen, die bespitzelt worden seien, wenige Berichte.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 6. Januar 2015 von in Hirnfutter und getaggt mit , .

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