Wie Amelie sich selbst und noch mehr entdeckte
I. Amelie stolperte plötzlich über eine leere Holzkiste, die der Gemüsehändler achtlos auf den Boden gestellt hatte. Sie schaute auf. Der dicke Mann war hingebungsvoll mit seiner Kundschaft beschäftigt und reichte über den breiten Tisch hinweg Tüten voller Pilze, Karotten, Kartoffeln und Lauchstangen an schwatzende Weiber. Von der Seite aus beobachtete sie ihn weiter, obwohl ihr Bein von dem Stoß schmerzte. Der Gemüsehändler, der Amelie an ihren längste verstorbenen Vater erinnerte, war inzwischen in ein Gespräch mit einer älteren Frau vertieft, die ihn nach der Zubereitung einer offenbar besonders schwierigen Mahlzeit fragte. ,,…leicht dünsten…Topf beiseite stellen…nicht zu schnell anbraten.”
Sie hörte nur wenige Bruchstücke der Unterhaltung deutlich, konnte sich aber den Gesten und Worten des Gemüsehändlers nicht entziehen. Amelie spürte eine tiefe Unruhe in ihm, die er auf eine ganz unbestimmbare Art überspielte.
Sein Profil war kantig und unter der Nase kräuselte sich ein wilder schwarzer Bart. Sein helles Hemd hing über einer Hose, die nur noch der Schmutz zusammenhielt. Trotzdem vermochte sie ihm zuzuhören wie man jemandem, der ein langes und wunderschönes Märchen erzählt. Der die guten von den bösen, die kleinen von den großen Dingen scheidet und am Horizont immer die Sonne aufgehen sieht.
Auf einmal sah sie der Händler direkt in die Augen.
Amelie erschrak heftig, ganz als ob sie unter seinem Blick erdrückt würde.
,,Ein Bund Lauchstangen – für die Mutter”, sagte sie verlegen.
,,Gerne, die junge Dame.”
Er griff mit seiner breiten Hand in die sauber aufgeschichteten Stangen und wickelte eine stattliche Anzahl geschickt in eine Zeitungsseite ein.
,,2,50 Euro bitte, wenn es geht passend”, sagte der Gemüsehändler mit einem geheimnisvollen Lächeln. ,,Und wenn du möchtest, komme morgen Abend gegen fünf Uhr zu mir in den Laden. Höllergasse 12. Ich richte Pfefferminztee und etwas Gebäck.”
Amelie war von dem Angebot überrascht, gleichzeitig spürte sie, wie ihre Neugierde geweckt wurde. Sie reichte ihm das Geld über den breiten Tisch.
,,Sogar passend”, lächelte der Händler sie an.
Auf dem Nachhauseweg gingen ihr viele Dinge durch den Kopf. Sollte sie sein Angebot annehmen? Was wollte er überhaupt von ihr und warum hatte er sie angesprochen?
Nachdem Amelie den großen Marktplatz überquert hatte, stieg sie die steilen Treppen unterhalb der Stadtkirche hinauf. Den leichten Schmerz in ihrem Bein hatte sie schon lange vergessen, als sie, an der Stadtmauer vorbei, kurz danach vor ihrem Elternhaus stand.
Die Mutter hatte sie schon erwartet und schaute besorgt, als Amelie vor ihr stand.
,,Bist du gerannt?”
Das Mädchen antwortete nicht und überreichte schweigend den Bund Lauch.
Ihre Gedanken zogen sich zurück zum Marktplatz, hin zu ihm. Im Kopf hörte sie auf einmal eine kleine Melodie, die sie lange vergessen glaubte. Ihr war, als würde sie in heißem Asphalt Spuren hinterlassen, die Hände eiskalt. Frühe Erinnerungen würfelten durcheinander und die Gegenwart verschwamm ihr vor Augen, als sich die Melodie in ihrem Kopf mit dem Glockenschlag der Stadtkirche mischte. Jeder einzelne laute Ton prägte sich tief in ihr ein und sie fühlte sich wie ein unfertiges Lied.
Amelie konnte noch nicht ahnen, zu wessen Gunsten sich die Waage neigen würde. Sie war sich sicher, dass sich dies gleichnishaft am Ende enthüllen wird. Auch war sie sich sicher, das jedes ihrer Werke schon von Anfang an mit einem Gebrechen behaftet war. Oft sah sie die Uhrzeiger lange still stehen. Stunden, Tage, Monate wie ein zeitloses Nichts.
Er könnte ihr vielleicht helfen, sich selbst zu erkennen, wurde ihr bisheriges Streben doch stets durch eine unangenehme, aber bestehende Ordnung der Dinge vereitelt. Amelie fühlte sich mit einmal stark. Ihre Tagträume könnten durch ihn vielleicht wirkliches Leben werden. Nicht mehr von Gewissensbissen gequält, nicht mehr mit den Leidenden mitleiden zu müssen.
Er könnte Wärme und Wissen sein.
II. Noch vor dem Griff des Tages auf die Welt machte sich Amelie am nächsten Morgen früh in die Höllergasse auf. An der Kirche zog sich die Gasse in einer Verlängerung zur Stadtmauer hin. Tausend Gedanken flogen ihr durch den Kopf, als sie an den alten, in sich hineinkauernden Häusern vorbei ging.
Vor dem ausstaffierten Schaufenster eines Rahmenmachers blieb sie stehen und betrachtete die zahlreichen Bilder. Drucke von Monet und Picasso standen neben Fotografien der New Yorker Skyline und der Wüste Namibias. Amelie nahm die bunten Eindrücke mit sich und suchte die Hausnummer des Gebäudes.
,,Höllergasse 6” stand auf einem Metallschild über einer offenen Tür.
Drei Häuser weiter sah sie das Schild ,,Feinkost Dollinger”. Auf dem Gehweg standen Regale mit frischem Obst und Gemüse. Durch die Milchglasscheibe konnte sie im Inneren des Geschäftes wenig erkennen, wo weder Kunden noch Verkäufer zu sein schienen.
Amelie trat mit pochendem Herzen ein und nahm sofort den Geruch von Pfefferminze wahr. Darüber legte sich ein Hauch von angenehm süßlichem Anis und stark aromatischem Estragon. Sie sah Kardamom in tiefen Schalen, dessen Geschmack sie an Eukalyptus erinnerte. Gleich daneben getrocknete und gebrochene Lorbeerblätter in einem offenen Stoffbeutel, die im ganzen Raum einen würzig balsamischen Geruch entfalteten.
,,Es ist schön, dass du gekommen bist.“
Amelie erschrak heftig und wurde mit einem Augenblick aus den unzähligen Gerüchen herausgezogen.
,,Guten Tag, Herr Dollinger“, sagte sie höflich.
,,Ich bin nicht Dollinger. Das Schild stammt noch von meinem Vor-Vorgänger des Geschäfts. Ich heiße Lindlaub. Hans Lindlaub. Darf ich nun auch deinen Namen erfahren?“
,,Ich heiße Amelie.“
,,Wirklich ein bemerkenswert schöner Name“, sagte Lindlaub mit einem Lächeln, welches sie frieren ließ.
Der Gemüsehändler kam auf Amelie zu und bat sie mit einer vornehmen Handbewegung in ein hinteres Zimmer, dessen Türloch mit einem dichten Stoff zugehängt war. Amelie sah wie Lindlaub den Schlüssel an der Tür seines Geschäfts herumdrehte und das Schild ,,Geschlossen“ aufhängte.
Dann ging er mit drei großen Schritten an ihr vorbei, schob den Stoff zur Seite und sagte mit einem freundlichen Unterton: ,,Bitte tritt ein.“
III. Nachdem sich Amelie nach kurzer Zeit an die matte Dunkelheit des Raumes gewöhnt hatte, konnte sie in der Mitte einen aufwändig gearbeiteten Schachtisch entdecken. Die Tischfüße waren aus purem Gold gedreht worden und schimmerten wie nach einer Politur. Auch das Spielbrett schien aus Gold zu sein, die weißen Felder in einem helleren Farbton als die Felder, auf denen die schwarzen Figuren aufgestellt waren. Diese gedrechselten Figuren war aus Elfenbein hergestellt, eine jede erkannte sie deutlich. Amelie sah die gespaltene Mitra des Läufers, der Turm war mit Zinnen ausgeführt und den Springer zierte ein großer Pferdekopf. Den Mittelteil der Figuren bildeten unterschiedlich tief eingeschnittene Ringe, die auf einem pilzförmigen Sockel aufsaßen.
,,Gefällt es dir?”
Amelie drehte sich zu dem Gemüsehändler um, der sie aus einer Ecke des Zimmers beobachtet hatte.
,,Bitte setz dich, ich bringe dir Tee und Gebäck – wie versprochen.”
Kurze Zeit später saßen sie sich am Schachbrett gegenüber, auf einem kleinen Tischchen dampfte frisch aufgebrühter Pfefferminztee in Tassen und Kanne.
,,Verstehst du etwas vom Schachspiel?”
Amelie erinnerte sich an ihren Vater, der regelmäßig mit Freunden, aber auch mit wildfremden Menschen Schach spielte. Meist wurden es lange Stunden, an denen sich die Männer bis tief in die Nacht hinein schweigsam gegenüber saßen. Nur ab zu hörte sie ein tiefes Atmen, etwa wenn einer der Spieler dem anderen eine Figur abnahm.
Ihr Vater hatte sie früh in die Regeln des Spiels eingeweiht. Schnell hatte sie gelernt, wie die Figuren ziehen. Am Anfang bewegt sie die Dame und Läufer noch zaghaft über das Brett, aber mit jedem neuen Spiel wurde sie mutiger und erweiterte ihren Wirkungskreis. Der Vater fand schnell Gefallen an Amelies Schachkünsten, er zeigte ihr Tricks und ließ sie auch schon gegen den ein oder anderen seiner Gäste spielen.
,,Ich kann Schach spielen”, sagte sie und griff nach einem weißen Bauern.
,,Nein, nein, bitte nicht berühren. Jetzt noch nicht.”
Hans Lindlaub war kurz aufgesprungen, aber über Amelies Eifer nicht ernsthaft erzürnt.
,,Bevor wir spielen, möchte ich dir eine Geschichte erzählen.”
Lindlaub setzte sich wieder, roch in seine Teetasse, schlürfte mit spitzem Mund und lehnte sich gemütlich zurück. ,,Dieses Schachspiel habe ich 1958 in Rom von einem Schachspieler namens Milan Lasnitz geschenkt bekommen. Lasnitz spielte damals öffentlich gegen jeden, der genug Mut dazu hatte und verdiente sich so seinen Unterhalt. Mit Vorliebe spielte er blind Schach und dies gleichzeitig gegen mehrere Gegner. Einmal habe ich erlebt, wie er es in einem Park mit 15 Schachspielern aufnahm, wobei er jedem einen Zug Vorsprung einräumte. Lasnitz verlor nicht ein einziges Spiel, Remis schien für ihn nicht zu existieren. Er lebte unterhalb des Marktplatzes in einer kleinen Gasse allein in einer kleinen und feuchten Absteige, die über und über mit Schachspielen aus aller Welt vollgestellt war. In vielen Turnieren und Spielen überrumpelte er seine weniger begabten Gegner immer wieder mit dem Narrenmatt, gleichzeitig konnte er sich stundenlang an einer Partei festbeißen.”
,,Narrenmatt?”, fragte Amelie. Der Begriff war ihr trotz aller Kenntnisse nicht geläufig.
,,Das Narrenmatt ist die kürzest mögliche Zufolge, die von der Ausgangsstellung zum Matt führt. Erreicht wird dies für Schwarz mit ganzen drei Zügen, wobei Weiß ein kleines Missgeschick unterlaufen sollte.”
Lindlaub beugte sich über das Brett und begann die Figuren zu ziehen.
Den weißen Bauern von f2 nach f3, im Gegenzug den schwarzen Bauern von e7 nach e6. Im nächsten Zug folgte der Bauer von g2 nach g4 und schon erkannte Amelie die Falle.
,,Halt”, rief sie.
,,Siehst du die Lösung?”
,,Die schwarze Dame von d8 nach h4 – und matt.”
Er lächelte, schaute Amelie an und stellte dann die Figuren wieder in ihre Ausgangspositionen.
,,Wegen so einer Kleinigkeit haben sie aber nicht dieses schöne Schachspiel von Lasnitz geschenkt bekommen, oder?”
,,Nein, es war eine ungleich schwerere Aufgabe, die er mir stellte. Ich sollte eine kürzestmögliche Partei spielen, so dass man nach der Mattstellung gleich eine Partie Dame spielen konnte.”
,,Und da bei Dame Schwarz den ersten Zug macht, musste Weiß bei der Schachpartie als letzte Figur gezogen werden.”
,,Richtig beobachtet Amelie.”
,,Und – haben sie eine Lösung gefunden.”
,,Nach zehn Tagen konnte ich Milan Lasnitz eine Zugabfolge präsentieren, die er zwar in einzelnen Zügen kritisierte, aber wegen ihrer Schönheit doch akzeptierte.”
Wieder beugte sich Lindlaub über das goldene Brett und begann die Figuren zu ziehen.
Zug um Zug wurde das Staunen Amelies größer. Kälte und Wärme zogen gleichermaßen durch ihren Körper, der Gemüsehändler hatte es mit seinem Spiel schon nach kurzer Zeit geschafft, sie völlig in seinen Bann zu ziehen.
,,Siehst zu. Nach e3 und d6 folgt als nächster Zug g4 und Lxg4. Und weiter. Von h2 nach h3 und der Läufer schlägt h3. Jetzt wird der Springer aktiv und bereitet dem Läufer auf h3 ein Ende. Bei Schwarz folgt der Bauernzug auf a6. Wieder ein Läuferzug von f1 nach a6 – und geschlagen. Der Läufer auf a6 wird anschließend ein Opfer von Turm a8, dann zieht Weiß seine Dame auf das Feld h5. Der Turm auf a6 geht weiter auf Raubzug und schlägt anschließend auch a2. Und nachdem sich die Dame den Bauern auf h7 geholt hat, zieht der schwarze Turm zurück auf a7.”
Amelie protestierte: ,,Die Dame!”
,,Gut beobachtet”, sagte Lindlaub. ,,Bei einem richtigen Spiel hätte die weiße Dame fallen müssen, an diesem Punkt übte Lasnitz auch die heftigste Kritik. Trotzdem ließ er mich gewähren und ich konnte meine Schachpartie nach und nach zu Ende bringen, die ja in eine Stellung für ein Damespiel enden musste.”
,,Und wie ging es weiter?“, fragte Amelie.
,,Ich zog den weißen Springer auf a3 mit anschließendem Bauernzug von b7 nach b6. Weißer Bauer auf c3, schwarzer Springer zieht dann nach h6. Im zehnten Zug schlägt die Dame h6, gefolgt von Bauer auf f6. Schließlich folgt der Turm auf h2 und der schwarze König auf f7.
,,Es müssen nur noch wenige Züge sein”, sagte Amelie, die fasziniert auf das Brett starrte.
,,Richtig. Nach dem Zug des Schwarzen Königs auf f7, setzte ich die weiße Dame auf das Feld f4 und zog den König weiter auf g6. Nach Dame g3 mit Schachdrohung und König h6 blieb nur noch eines zu tun. Den weißen Springer zurück auf g1, dann standen die Figuren für ein Damespiel bereit.
Amelie verschlug es den Atem. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
,,Sie haben nicht nur ein Spiel in eine anderes verwandelt, sondern am Ende des Schachs noch eine Mattstellung aufgebaut.”
Hans Lindlaub lehnte sich zurück: ,,Lasnitz war trotz einiger Verbesserungsvorschläge sehr angetan und lobte meine Kombinationsgabe. Oft sind es nur ganz kleinen Dinge, die etwas völlig verändern können.”
Lindlaub stand auf und eilte in Richtung Türe.
Wie benommen folgte ihm Amelie und als sie wieder auf der Höllergasse stand, war ihr, als ob sie aus einem tiefen Traum erwachte.
IV. Der Gemüsehändler hatte sie nicht nur mit wenigen Zügen in den Mikrokosmos des Schachspieles geführt, sondern ihr damit auch die Augen für Wesentliches geöffnet. Das Spiel war für Amelie so sanft wie Geigenmusik geworden, ein gleichsam lebender und singender Organismus. Sie war in der letzten Stunde, und dies fühlte sie tief in sich, Zeugin einer spielerischen Wandlung geworden.
Auch einer Wandlung ihrer selbst.
Der Unmensch in ihr war wie vertrieben, kalte Gedanken wie ausgelöscht. Ihr Gefühl gab der Erkenntnis außer der Gewissheit auch die Richtung vor. Die Bilder, die am Schachbrett in der Höllergase vor ihr aufgestiegen waren, täuschten sie nicht, lernend hatte sie an der Überlieferung uralten Wissens teilgenommen.
Diese Erfahrung würde sie nicht mehr abstreifen können, Amelie war sich ganz sicher, ihren Platz in der Welt gefunden zu haben.
Als sie im elterlichen Haus durch die Tür trat, stand die Mutter mit verweinten Augen vor ihr.
Noch vor Tagen wäre sie einem Gespräch aus dem Wege gegangen, sie hatte sich nie zuständig für die Schmerzen ihrer Mutter gefühlt.
Jetzt war etwas anders, Amelie fühlte sich zu ihr hingezogen und voller Liebe.
Sie nahm die Mutter in die Arme und führte sie behutsam in das große Wohnzimmer. Amelie musste an ihren Vater denken, der hier in einer Ecke oft nächstens vor einem Schachbrett saß und stundenlang kein einziges Wort sagte.
Ihr Blick fiel plötzlich auf die Figuren-Stellung auf dem Brett, an dem schon lange nicht mehr gespielt worden sein musste. Es war exakt die gleiche Stellung, wie auf dem Brett von Hans Lindlaub. Der weiße Springer war auf g1 gezogen worden, alle anderen Figuren waren für ein Damespiel bereit.
Amelie fühlte den heißen Atem ihrer Mutter hinter sich.
,,Ich mache uns einen Pfefferminztee und etwas Gebäck. Wollen wir dann eine Partie spielen?”, fragte sie.
,,Gerne Mutter.”