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Bietigheimer Kommunist sabotiert Hitler-Rede

Mutig war Kurt Hager vor allem in jungen Jahren. Er sabotierte in Stuttgart eine Rede von Hitler. Aber erst mit dem Eintritt in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands fand der 1912 in Bietigheim geborene Edelkommunist seine wahre Berufung. Er gab in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die Kultur- und Bildungspolitik vor und galt als Chefideologe der SED – uneinsichtig bis zum Ende.

Kurt Hager: Ein schwäbischer Edelkommunist aus Bietigheim.

Am Abend des 15. Februar 1933 geschah in der Stuttgarter Stadthalle an der Neckarstraße Ungeheuerliches. Vor rund 10.000 Menschen sprach Adolf Hitler, zuvor verkündete Joseph Goebbels, der Führer werde in Wirklichkeit zu zwei Millionen Menschen sprechen. Möglich war dies durch Übertragungen des Süddeutschen Rundfunks und des Südwestfunks. Die Rede wurde auch auf den Stuttgarter Marktplatz übertragen, wo sich Sturmabteilungen der NSDAP aus ganz Württemberg versammelt hatten.

Exakt um 21.17 Uhr brach die Übertragung im Radio ab, Hitler war nur noch in der Stadthalle zu hören. Der Grund: Eine Gruppe junger Kommunisten hatte in der Werderstraße das Rundfunkkabel in vier Metern Höhe mit zwei gezielten Axthieben gekappt, initiiert wurde die Sabotage von dem damals 20-jährigen Bietigheimer Kurt Hager. „Wir glaubten, auf diese Weise ein Signal für den Widerstand gegen den Faschismus zu geben und wollten der Tatenlosigkeit ein Ende setzen. In Wirklichkeit blieb dies eine Einzelaktion, ein ergebnisloses Sich-Aufbäumen“, so Hager in seinen Erinnerungen.
Der am 24. Juli 1912 in Bietigheim geboren Kurt Hager war immer zielstrebig und voller Tatendrang, was wohl auch mit den Entbehrungen in seiner Kindheit zusammenhängen mag.

Sein Vater Georg Leonhard Hager, ein Oberfranke, war Herrschaftsdiener bei dem Bietigheimer Möbel-Fabrikanten Faber, nach späterer offizieller Lesart der DDR ein „Arbeiter“. Er diente als Ersatzreservist im Landwehrregiment 121 und fiel am 9. Februar 1915 bei einem Gefecht in Münster im Elsass.

So wuchs der Junge in der Zeit des Ersten Weltkrieges bei seiner Mutter Sophie Friederike, eine geborene Starzmann, im Gebäude Stuttgarter Straße 100 in Bietigheim auf.

Hager wuchs in der Stuttgarter Straße 100 in Bietigheim auf.  Foto: Alfred Drossel

Im  Nachbarhaus befand sich seinerzeit die Gastwirtschaft „Zur Eisenbahn“, das Gebäude wurde im Zuge des Neubaus des Bietigheimer Bahnhofes abgerissen. Der Alltag von Kurt und Sophie Hager war von Mangel geprägt. Die beiden verfügten ohne Familienoberhaupt kaum über Bares. Die Mutter musste als Putzfrau arbeiten, auf den Tisch kamen oft nur Maisbrot und Kohlrüben, die Wohnung wurde untervermietet.

Ab dem Alter von sechs Jahren besuchte Kurt Hager die Volksschule, die heutige Hillerschule, und musste dazu den langen Weg in die Stadt zurücklegen. Obwohl Kurt manchmal zu spät kam, war er der Primus in der Klasse und wurde als Erster von Lehrer Vogel mit einem Privileg ausgestattet – er durfte dessen Fahrrad in die Schule „fahren“.

Kurt Hager wurde nach seinem Abitur, das er 1931 an der Stuttgarter Wilhelm-Oberrealschule mühelos mit einem „Sehr gut“ abgelegt hat, schnell ein politischer Mensch. Schon in jungen Jahren engagierte er sich im Sozialistischen Schülerbund und ab 1929 im Kommunistischen Jugendverband. Im August 1930 trat er schließlich, noch während seiner Schulzeit, in die Kommunistische Partei Deutschlands ein. „Dieser Schritt bestimmte mein weiteres Leben“, schrieb Hager. Ein Ergebnis dieses Schrittes war das so genannte „Stuttgarter Kabelattentat“. Es war zwar erfolgreich verlaufen, hatte aber auch die Unerfahrenheit konspirativer Tätigkeit offenbart.
Und der Unerfahrenheit folgte die Unachtsamkeit.

Am 1. Mai 1933 wurde Hager bei der Abschlusskundgebung der „Arbeitsfront“ im Neckarstadion auf dem Cannstatter Wasen erkannt und verhaftet. Es folgte die Haft im Konzentrationslager Heuberg auf der Schwäbischen Alb, dem ersten Lager dieser Art in Württemberg.

1934 emigrierte er in die Schweiz, wurde Kurier und Oberberater des Kommunistischen Jugendverbands Deutschlands für Mittel- und Norddeutschland, und zeitweise erneut in Haft genommen. In der Schweiz lernte Hager auch seine Frau Sabine (Bim) kennen, eine Jüdin, die im Holocaust vier Familienmitglieder verlor. 1936 setzt sich Hager nach Frankreich ab und nahm von 1937 an zwei Jahre lang als Angehöriger der Internationalen Brigaden am Spanischen Bürgerkrieg teil.

Das wichtigste Ereignis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei der Sieg der Oktoberrevolution in Russland gewesen, zog Kurt Hager Bilanz. Er habe die Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus auf einem Sechstel der Erde geschaffen. Er war überzeugt, dass Lehren aus der deutschen Geschichte gezogen und neue Wege beschritten werden mussten. „Das neue Deutschland musste ein Deutschland des Volkes sein, friedliebend, demokratisch und antifaschistisch“.

Nach dem Zweiten Krieg kehrte Kurt Hager und seine Frau mit einem Einreisevisum der Sowjetischen Militäradministration für die sowjetische Besatzungszone nach Deutschland zurück. In der Sowjetischen Besatzungszone gründeten sich unabhängig voneinander die SPD und die KPD wieder.

Hager wurde im gleichen Jahr der Gründung der SED stellvertretender Chefredakteur der Zeitung „Vorwärts“ und – ein deutlicher Karrieresprung – anschließend Leiter der Abteilung Parteischulung beziehungsweise Propaganda im SED-Parteivorstand.

Kurt Hager als Autor: Sein Buch „Beiträge zur Kulturpolitik“, erschienen in der Studienbibliothek der marxistisch-leninistischen Kultur- und Kunstwissenschaften, Dietz Verlag Berlin 1981.  

Hager nahm sich dieser Agitationsaufgabe mit großem Fleiß an und stieg dabei bis in die höchsten Ämter auf. So wurde der gebürtige Bietigheimer 1954 Mitglied, ein Jahr später Sekretär, im Zentralkomitee (ZK) und blieb es, stets gefestigt, auch bis 1989.

Höchste Gefahr lauerte in den ersten Jahren der SED. Hager entging 1957 durch „Üben von Selbstkritik“ einer Säuberungsaktion innerhalb der Parteiführung, bei der Walter Ulbricht Kontrahenten im Kampf um die Macht in Staat und Partei ausschaltete.

Im Jahre 1963 wurde Kurt Hager Mitglied des Politbüros und Leiter der Ideologischen Kommission des Politbüros, der so genannte „Chefideologe der SED“. Den Begriff lehnte er ab. Die Funktion eines Chefideologen habe es in der SED nicht gegeben. Seine Beiträge zur Theorie und Politik des Sozialismus, seien, ebenso wie seine Beiträge zu Kultur und Wissenschaft, meist in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler und Kulturschaffenden entstanden, politisch wichtigere Themen habe er mit dem Politbüro abgestimmt.

Die Berufung in diese Gremium brachte für Hager viele Annehmlichkeiten mit sich, von denen das „einfache Volk“ in der DDR nur träumen konnte. Auf Anordnung von Erich Mielke habe er in eine Waldsiedlung bei Wandlitz umziehen müssen. Die Abgeschiedenheit habe sich als schwerer politischer Fehler erwiesen, so Hager. Unter anderem auch, weil Gerüchte entstanden seien. So sprach man von einer Bonzensiedlung, Luxus und Privilegien des Politbüros. „Dieser Lebensstil der Abschottung entsprach nicht der Lebensweise von Kommunisten, die Vertreter eines Arbeiter- und Bauern-Staates waren. Allerdings habe ich mich nicht dagegen gewehrt, sondern mitgemacht“, erinnerte sich der Funktionär.

Im September 1982 erhielt Kurt Hager Besuch aus seiner Geburtsstadt Bietigheim. Helmut Burkhardt und der Fotograf Alfred Drossel, beide Reaktionsmitglieder der Bietigheimer Zeitung, besuchten Hager in Berlin an seinem Amtssitz am Marx-Engels-Platz. Die beiden Journalisten aus dem Westen wurde im Zentralkomitee der SED fotografiert und ließen sich in Hagers Büro bei Kaffee in ledergepolsterten Sesseln nieder. Schnell löste sich die angespannte Stimmung und man konnte in das Interview einsteigen.

„Ich hätte schon schon mal Lust, Bietigheim zu besuchen“, sagte Kurt Hager den beiden Journalisten Alfred Drossel und Helmut Burkhardt von der Bietigheimer Zeitung 1982. Nur wurde nichts daraus. 

Dabei gab der Spitzenfunktionär der DDR nicht nur Nettigkeiten von sich, sondern antwortete auch auf aktuelle Fragen, wie die kulturelle Zusammenarbeit beider deutschen Staaten, die Sicherheit von Atomkraftwerken und das gegenseitige politische Verhältnis.

Ein ganz „anderes“ Interview gab Kurt Hager im März 1987 der westdeutschen Illustrierten Stern. Die Fragen und die schriftlich ausformulierten Antworten dazu lagen dem Politbüro der SED allerdings schon Tage vorher vor und wurden dann nach ihrer Absegnung übermittelt. In dem „Interview“ meinte Kurt Hager auf die Frage, ob sich nun auch die DDR wandeln würde – ganz im Sinne von Glasnost und Perestroika: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Das „Interview“ erschien auch im „Neuen Deutschland“.

Im Januar 1995 wurde Kurt Hager, neben Egon Krenz und Günter Schabowski, von der Berliner Generalstaatsanwaltschaft des mehrfachen gemeinschaftlichen Totschlags an der innerdeutschen Grenze angeklagt. Die Berliner Justiz sah mit Rücksicht auf seinen schlechten Gesundheitszustand allerdings von einer Strafverfolgung ab. In seinem Buch „Erinnerungen“ folgte 1996 dann eine späte, eine zu späte Einsicht: In der SED-Kulturpolitik habe ein kleinlicher Geist, eine sture Bevormundung und Borniertheit geherrscht, zog Kurt Hager Bilanz.


Kurt Hagers Bilanz seines Lebens in Buchform. 

Auf der Höhe seiner Macht erinnerte sich Hager gerne an seine Heimat und Geburtsstadt Bietigheim, wobei er den Schwaben in sich nicht verstecken konnte. Wie es der Zufall wollte, saß er 1987 beim Festkonzert zur Eröffnung der Leipziger Messe neben dem damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth, der seine Karriere im Bietigheimer Rathaus begann. Das Protokoll und die Sitzordnung zeigte Wirkung, schnell kamen die beiden ins „Schwäbeln“, wobei Hager Späth in nichts nachstand. Den Spruch: „Die Schwaben werden mit vierzig g’scheit, die anderen nicht in Ewigkeit“ klopfte er genau so wie „Der Schiller ond der Hegel, der Uhland ond der Hauf, des isch bei ons die Regel, des fällt ons gar net auf.“ In seinen „Erinnerungen“ berichtet Hager darüber hinaus auch von einer Einladung des Bürgermeisters von Bietigheim in den 1970er-Jahren. Als DDR-Politiker sei dies jedoch schwierig gewesen.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 6. Februar 2015 von in Hirnfutter und getaggt mit , , , , , , .

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