Palitzsch

See you, see me.

Ingersheim: Halsgericht, Totenwege und ein Messer im Grab

Es sind die Erinnerungen, die unser Leben bestimmen. In ihnen können wir uns wohlvertraut bewegen, Fehler verschweigen und zurechtbiegen. Erinnerungen sind geschönt. Es gibt Geschichten, in der man die Vergangenheit wiederfinden können. Geschichten, die sich so zugetragen haben, in Ingersheim, in der Ortsmitte und an den Rändern der Gemarkung. Wo immer dies für jeden einzelnen sein mag. Geschichten über ein Messer im Grab, den Totenweg, das Halsgericht.

Es könnten schreckliche Geschichten sein. Die von Denunzianten erzählen. Oder von einem Ingersheimer Autoverkäufer, der sich angesichts dem Drängen seiner weiblichen Kundschaft schon mit 30 sterilisieren lassen musste. Oder von einem Ort der als „Schraubstockbar“ in die Dorfgeschichte eingegangen ist.

Erzählen kann man viel, wenn die Erinnerung langsam ins Hier und Jetzt zurückkommt und alle Notizen auf dem Papier immer noch leserlich sind.

Also auf dorthin.
Vergilbtes Papier in die Hand genommen, um Verschüttetes freizugraben.

krone

Im Ingersheimer Gatshaus Krone sprach man viel über General Tito. Und Ivan machte sich eines Abends durch das eiserne Tor zum Friedhof auf, um ein Messer in ein frisches Grab zu stechen.

Eine seltsame Wette trug sich mit der 1990er-Jahre im Gasthaus Krone zu. Auf meinem vergilbten Papier im 18. Jahrhundert schon namentlich erwähnt. Im 16. Jahrhundert war die Krone ein „Haus der Gastgeber, in dem man allem nach nicht schlecht versorgt war, was Speis und Trank betraf. Der Wein mag nicht der beste gewesen zu sein. Für die Benutzung der Kelter musste man an die hohen Herren den „Kelterwein“, den 30sten Teil von Druck und Vorlass, entrichten. Der „Herrschaftswein„ wurde als Fron nach Bietigheim abgeführt, der Fuhrmann erhielt für seine Dienste einen „Zweipfennigwein“.

Von all dem wussten wird damals nichts, als Ivan zum großen Schlag ausholte. Die Ingersheimer Jugoslawen trafen sich in der Krone regelmäßig am Stammtisch. Kartenspiele dienten dem Zeitvertreib. Jeder Abend wie jeder, bis zur vorgerückter Stunde – die Luft rauch- und alkoholgeschwängert – der nahe Friedhof plötzlich Thema wurde.

Ivan war Wortführer mit den meisten Strichen auf dem Bierdeckel. Er behauptete gegen Mitternacht, er könne ungestraft ein Messer in ein frisches Grab stechen. „Kein Problem, so etwas kann doch jeder, was soll der Unsinn?“ schallte es ihm entgegen.

Ivan brüllte in seinem Rausch los: „Ich machs‘, koste es, was es wolle“.
Er zog seinen langen Mantel an, zeigte der Runde stolz sein Messer – und ging los. Wir sahen durch die bunten Wirtshausscheiben, die Szenen aus dem Weinberg zeigten, wie Ivan über den Platz in Richtung Friedhof ging.
Schon kurz danach war er im Dunst unserer Räusche vergessen. Wir spielten weiter Karten bis zum Morgengrauen.
Am nächsten Tag das selbe Bild, die gleiche Runde. Nur Ivan kam nicht.

Schon tagsüber verbreitete sich im Dorf die schaurige Nachricht, auf einem frischen Grab sei im Friedhof ein ortsansässiger Jugoslawe tot gefunden worden. Verletzungen habe man nicht festgestellt.
Wenige Tage später hatte der Dorffunk die ganze Geschichte parat.
Ivan war in jener Nacht an ein Grab gegangen und hatte das Besser in die lockere Erde gestochen. Dabei erwischte er wohl ein Stück des langen Mantels, das mit dem Messer im Boden stecken blieb. Beim Aufstehen glaubte Ivan, dass ihn wohl der Tote plötzlich aus dem Grab heraus festhalten würde. Ein schwerer Herzinfarkt war die Todesfolge, hieß es im Obduktionsbericht.

Die Ingersheimer Jugoslawen behielte die grauenhafte Geschichte in Erinnerung, diskutierten aber wenige Tage später, wie so oft, über Josip Broz Tito. Der wurde 1974 als Staatspräsident auf Lebenszeit bestätigt und das Amt auf seine Person beschränkt. Nach dem Januar 1980 blieb Tito nach einer schweren Operation und Beinamputation in ständiger medizinischer Intensivbehandlung. Am 4. Mai 1980 wurde Tito in Ljubljana für tot erklärt und in der Krone flossen die Tränen. Sie wussten noch nicht vom Balkankrieg, der das Land ab 1991 auseinanderriss und unzählige Tote mit sich brachte.

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Rätselhafte Wege – Totenwege und Leichenflugbahnen.

Verlassen wir Großingersheim in Richtung Kleiningersheim. Irgendwo über die Kirchgasse, Pflaster und Brühl geht es vorbei an alten Obstbäumen. Um sie kümmert sich niemand, die Äpfel fallen ins Gras und verfaulen.

Doch weiter in Richtung Kleiningersheim. Über Leichenflugbahnen und den Totenweg, auf dem die Kleiningersheimer bis anno 1606 ihre Toten nach Großingersheim trugen.

Gestorben wurde damals schnell.

So wurde in Kleiningersheim 1606 ein Gotteslästerer vom „Halsgericht“ zum Tode verurteilt und hingerichtet. Er hatte törichte Äußerungen über eine göttliche Weltregierung getan, was nicht in die überstrengen Rechtsanschauungen der Zeit passte. Hinrichtungen von Ingersheimern sind auch aus den Jahren 1546 und 1756 bekannt.

Die Toten, so steht es auf meinen vergilbten Blättern, kümmert weder Baum noch Strauch, weder Haus noch Mauer, noch Zaun und Hecke. Denn die Toten besuchen sich in stürmischen Nächten und fliegen durch die Luft von einem Gottesacker zum anderen. Nicht hoch über der Erde, deshalb leiden sie auch keinen, nur wenige Ellen hohen Gegenstand auf ihrem Weg.

11 rauhnachtsspuk

Keine Angst: Gute Geister.

Der Ingersheimer Totenweg führt in einem unregelmäßigen Verlauf durch die Weinberge. Damit haben sie es bei ihren gegenseitigen Besuchen besser, besser als etwa in Bönnigheim.

Die Christen mussten dort jahrhundertelang zu der mehrere Kilometer entfernten Michaelskirche bei Cleebronn wandern, wenn es um Taufe und Begräbnis ging. Die eigene Kirche St. Cyriakus war nur Tochterkirche und hatte weder ein Tauf- noch ein Begräbnisrecht. Der alte Totenweg in Bönnigheim ist nicht mehr erhalten

Da haben wir es in Ingersheim mit unseren Geistern doch besser. Sie können sich besuchen und sind so unter uns. Also nicht erschrecken, wenn man auf dem oberen Wengertsweg unterwegs ist und von einem kalten Hauch umhüllt wird.
Alles ganz normal.

schneespuren

Spuren hätte man im Schnee sehen müssen. War aber nicht so.

Erschrecken sie auch nicht, wenn ihnen auf dem Wegertsweg nächstens ein schwarz gekleidetes Pärchen entgegenkommt. Unterwegs ist das Duo im Namen des Herrn, vor allem im Januar, wenn Wiesen und Wege mit einer leichten Schneeschicht bedeckt sind.
Nach einem Kegelabend im Kleiningersheimer Gasthof Linde machte sich ein junger Mann gegen Mitternacht auf den Nachhauseweg in Richtung Großingersheim, wo ein Bett wartete.

Als das Pärchen auf Höhe der steinernen Wegertshütte wort- und grußlos an ihm vorbeigegangen war, sah er im frisch gefallenen keine Spuren.

Gute Geister, völlig harmlos.

So rückt Kleiningersheim in den Mittelpunkt. Ein Ort mit dem Charme einer geschlossenen Auster, berühmt durch die „Schnitzelfabrik“, die eigentlich Rössle heißt. Zu besseren Zeiten schaufelten sch dort in Ludwigsburg stationierte Amerikaner extrem flache Schnitzel mit einer dicken Schicht Paniermehl in sich hinein. Elvis Presley kam nie bis Kleiningersheim.

Dafür andere.
Etwa 1693 die Franzosen, die im „Franzosenjahr“ die Georgskirche schändeten. Auch darüber gab der 1922 verstorbene Pfarrer Richard Stein, Sohn des Landesgerichtspräsidenten Friedrich August von Stein, in seinem 1903 veröffentlichten Buch „Geschichte von Groß- und Kleiningersheim“ Auskunft, wie sich Deutsche und Franzosen in einem sinnlosen Krieg aufrieben. Der Großingersheimer Pfarrer Michael Harr wies in seinem Vorwort zu diesem Buch darauf hin, dass Stein auf Schriftliches früherer Pfarrer aufgebaut habe.

So greift eine Überlieferung in die andere, man geht zurück in die Vergangenheit, die Erinnerng werden kann. Ganz als ob Richard Stein das vergilbte Papier weitergegeben hat, die er selbst gefunden und erhalten hat.

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