Einlieferung an einem Donnerstag, vermerkte das Protokoll, Anne konnte sich nicht daran erinnern. Sie war in der Nacht von jenen geweckt worden, die nicht mit den Vögeln singen können. In ihren Gedankengängen war zunächst ein Poltern. Dann klopften sie mit harter Faust an die Türe, bis ihr der Kopf zu platzen schien. Sie wollte es immer allen sanft tun, jetzt sah und hörte sie ein lautes Gewitter.
Am Versuch, ein Gefühl dafür zu erahnen, scheiterte sie. Die Sprache der Bäume, die Flügelschläge der Vögel und der Duft der Rosen waren ihr plötzlich verschlossen.
Es herrschte Unordnung, Krach und Gewalt.
Grobe Hände klammerten sich um ihren Oberarm, der Schmerz machte Anne stumm und taub.
„Alles meint Anfang“.
„Alles meint Anfang“.
„Alles meint Anfang“.
Anne spürte ihren geschundenen Körper, die schmerzenden Druckstellen am Oberarm. Von weitem mischte sich der monotone Gesang eines Kuckucks mit einer dunklen Stimme.
„Alles meint Anfang, liebe Frau“.
Anne schlug die Augen auf und sah einen jungen Arzt vor sich am Bett stehen.
Sie rutschte noch weiter unter die wärmende Decke. Hier konnte niemand die Bäume hören, die langsamer als Gras wuchsen.
Der Arzt redete ohne Unterlass auf sie ein. Beladen mit Sendungen, die sie nicht verstand, rückte Anne noch ein Stück tiefer in ihre Natur.
Dort wo der Schnee leise auf Zedern fällt, wo an Flussbiegungen Herzen begraben sind und die Namen der Rosen jeder kennt.
Im Schatten ihrer Gedanken sah sie einen Bär an ihr Bett treten.
Er hielt ein Tablett in der Hand, auf dem unzählige kleine Glasröhrchen lagen.
„Schlucken sie bitte ihren Saft“, sagte der Bär.
Bevor sie einschlief, wunderte sie sich noch über den bitteren Nachgeschmack.
Am nächsten Morgen wurde Anne aus dem Graubuch vorgelesen.
„Sie haben in der Nacht ihr Laken verkotet, der Nachtdienst war nur noch beschäftigt. Was glauben sie denn, wer sie sind? Legen sie sich hin und nehmen sie die Tabletten“. Anne spürte den Druck auf den Kehlkopf, als der Pfleger ihr drei Tabletten in den Mund schob. Beim Schlucken hatte sie Schwierigkeiten, das Mineralwasser war eiskalt.
„Schlafen sie schön“, hörte Anne den Pfleger noch sagen, danach sang ihr ein Rotkehlchen ein wundersames Lied.
Sie träumte von Collodi, ihrem Italiener. Sie hatte ihn bei einer Hochzeitsfeier in einem kleinen apulischen Dorf in der Nähe des Meeres kennen gelernt. Zunächst hatten sie getanzt und sich wie die Kinder zugelacht. Bei schwerem, nach Erde schmeckendem Rotwein kamen sich beide dann gefährlich näher. Collodi erkundete beim Tanzen mit seinen warmen Händen ihren Körper, als suche er eine unbekannte Topografie ab. In Anne wurde es warm und weich.
Danach erklärte er ihr den Fischfang und noch vieles mehr.
„In argento un serpente blu con una corona doro, che divora quasi un saraceno in colori naturali.”
„In Silber eine goldgekrönte blaue Schlange, einen Sarazenen in natürlichen Farben halb verschlingend.“ Niemals hatte ihr jemand das Markenzeichen eines „Alfa Romeo“ liebevoller erklärt.
So unvergesslich, so unwiederbringlich.
Ihre Träume fanden ein jähes Ende, als der Pfleger die Tagesdecke wegzog.
„Aufstehen“.
„Aufstehen“
„Aufstehen, jungte Frau“.
Anne fühlte sich fremd, erinnerte sich noch an den Schatten von Collodi, von dem sie wohl geträumt haben muss.
Ohne die Decke war ihr kalt. Ob der Pfleger sie so nackt wie sie dalag musterte, konnte Anne nicht erkennen. Kurze Zeit später würde sowieso die Schwester kommen und ihr lieblos Tee und Gebäck auf das kleine Ecktischchen stellen.
Nach dem Frühstück würde sie wieder einschlafen, um gegen Mittag erneut essen zu müssen.
Lebenserinnerungen zwängten sich zwischen diese festgefügten Stunden, Gedanken und Rituale. Man machte sich schön, schlug ein Rad um das andere, eroberte einen Mann, besetzte Posten und Positionen – immer zeigte alles nach oben. Aber dann Chemo, Bangen, Warten und Hoffen, aber auch Alter, Liebesverlust, verblassende Erinnerungen und Demenz.
Irgendwann, dachte Anne, irgendwann ist es für jeden Menschen aus.
Am Fischteich hatte sie jetzt auch einen Platz bekommen. Ein Pfleger führte sie an einen Stuhl in der Runde, von dem aus die immer noch stummen Fische beobachtet werden konnten.
Nach Wochen im vergitterten Käfig zog Anne die frische Luft tief in ihre Lugen ein. Es schmerzte ein wenig.
Wie durch einen Schleier sah sie in die Gesichter der anderen. Drei Plätze weiter saß ein Herr, der das Wort Gottes predigte.
Nicht zuhören, dachte Anne. Nicht schon wieder dieses Gefühl der Ohnmacht über mich kommen lassen. Ihr war, als ob sie andauernd Schläge auf einen Porzellanteller hörte, der Zeitpunkt des Erfrierens fühlte sie immer näher kommen. Die Kälte kroch langsam über ihre Zehen an ihren Waden hoch, erreichte die Schenkel und huschte in der Mitte genau in ihr Inneres. Das Herz eiskalt, hörte sie den Prediger: „Und wandere ich durchs dunkle Tal, wird es mir an nichts mangeln“. Anne spürte ihren Pulsschlag hinter den Augäpfeln klopfen, heißer Schweiß tropfte von der Stirn. Wie durch einen Schleier beobachtete sie die Runde, in der keine der anderen Schwester sein konnte.
„Geht es ihnen gut?“
Die Frage fühlte sie wie einen Rammbock in sich hinein stoßen. Der junge Pfleger mit seinen strohblonden Haaren kniete sich vor sie hin und verschränkte seine Arme auf ihre Knie. Er lächelte, und roch nach leicht nach Alkohol. Anne schlich ein Schauer den Rücken hinauf, ihr war, als würde sie im nächsten Moment vergewaltigt. Dann zog sie sich völlig zurück.
Als Kind hatte sie so gern den Fischen zugehört, wie sie sich Geschichten aus der Tiefe erzählten. Bei ihren Spaziergängen sah sie die Vögel, wie sie sich um sie versammelten. Immer wieder konnte sie ihre Lieder hören und mit ihnen ihre Sehnsucht betrauern, noch nicht in den warmen Süden fliegen zu dürfen. Schmetterlinge setzten sich in ihr Haare und flüsterten in allen Farben. Die Bäume griffen mit ihren blättergeschmückten Armen nach ihr, um Anne uralte Worte zu verraten. Die Blumen und selbst die grauen Steine sprachen zur ihr und sie verstand alles. Kein Käfig in dieser Natur, nirgendwo. Keine Mauern, die einsperren, keine Fenster, durch die alle Wege nur nach innen führen.
Anne fühlte eine große Liebe zu all diesen Dingen. Zum Rhythmus der Wellen, zum Wiegenlied der Gräser, zur vorsichtigen Hast der Wolken, zum Singsang der Lerchen, zum Kichern der Feen, zur Wärme des Wassers, zum sanften Schaukeln der Boote, zur Anmut der Schwäne und diesem unbeschreiblichen Takt der Flügelschläge schwarzer Raben.
L a n g s a m, l a n g s am, l a n gsam, langsam, schwebte sie in die Runde zurück.
Der Pfleger kauerte immer noch auf ihren Knien und roch immer noch nach Alkohol.
„Am besten, sie nehmen dies hier“, sagte er.
Die Erinnerungen hatten Anne die Kraft genommen, sich zu wehren. Diesmal fühlte sie einen schmerzhaften Druck auf ihre Wangenknochen, als ihr der Blonde eine Tablette in den Mund schob und danach mit der flachen Hand fest den Mund zuhielt.
In der Nacht wachte Anne kurz in ihrem Erbrochenen auf und bemerkte es nicht. Die Tablette und die frische Luft hatten ganze Arbeit geleistet. Dem Erstickungstod war sie nur entgangen, weil sie ihren Kopf aus Gewohnheit zur Seite gelegt hatte, in dieser Stellung hatte sie schon seit ihrer Kindheit immer ihre Mutter vor Augen.
Als sie am Morgen aufwachte, waren ihre Haare verklebt und es stank entsetzlich im Zimmer. Als der Pfleger der Frühschicht, ein rotblonder kleiner Kerl, die Tür öffnete, hörte sie ein leises „Verdammt“. Sehr schnell waren sehr viele Menschen im Raum. Anne saß verstört auf ihrem Bett, bis der Pfleger sie endlich an die Hand nahm und ins Bad führte.
Er zog sie aus, das warme Wasser war wie Balsam auf ihrem Körper. Er wusch ihre Haare, das Shampoo roch wie französisches Parfum. Und als er sie abtrocknete, war es, als ob ein Geigenbogen über ihre Haut strich. Anne wollte plötzlich etwas sagen, brachte aber keinen Laut über die Lippen.
Der Pfleger lächelte wie ein wissender Logenbruder. „Sie leben im Käfig. Aber ich sehe sie in einem Park voller Blumen und in dem Pfaue Räder schlagen“.
Am Wochenende kamen die Verwandten.
Annes Sohn, seine Frau und zwei laute Mädchen. Sie brachten Plätzchen, Hustenbonbons, Kekse, Bananen und Orangensaft. „Es wird schon werden Mutter“, sagte der Mann, den sie vor Jahren kennen gelernt hatte. „Anne, bald kommst du Nachhause“, sagte die Frau, deren Ekel im Blick sie gleich erkannt hatte. „Wann gehen wir wieder?“, quengelte eines der Mädchen.
Der nächste Tag wurde für Anne zum Glücksfall. Der kleine Rotblonde hatte Frühschicht und er würde für sie alles machen. Als er das Frühstück und die Tagesration Tabletten gebracht hatte, kam er kurz danach wieder in Annas Zimmer.
„Bringen sie mich heute Nachmittag zum Teich?“, fragte Anne.
„Gerne Madame“, sagte der Pfleger.
Als er sie am Arm in Richtung Teich führte, hörte Anne die Botschaften der Fische schon von weitem. Die Vögel im Gebüsch sangen Choräle, Steine gaben ihrem Schritt nach und die Luft vermied einen kalten Hauch. Anne fühlte sich völlig eins mit der Natur, die ihr alles schenkte. Am Wasser setzte sie sich auf einen Stuhl, der Pfleger stand hinter ihr. Sie konnte seinen Atem an ihren Nackenhaaren spüren, sagte aber keinen einzigen Ton.
Er wird wissen was zu tun ist.
Langsam sank Anne auf die Knie.
Sie war jetzt völlig eins mit der Natur, roch erdiges Moos und frische Gräser. Sie ließ sich nach vorne fallen und schlug mit dem Gesicht auf der Wasseroberfläche des Teiches auf. Der Pfleger drückte ihren Kopf mit aller Vorsicht unter Wasser.
Anne wehrte sich nicht und hörte den Fischen zu.