Palitzsch

See you, see me.

Ein Glücksfall

Die südkoreanische Sängerin Youn Sun Nah wechselt mit ihrem neuen Album She Moves on den Kontinent. Mit dem Schritt von Europa nach Amerika entdeckt sie nach dem Jazz nun Folk und Rock. Für sie ein Wagnis, für den Hörer ein Glücksfall.

seoul-2013-1-Sung-Yull-Nah-935x600Musik aus Südkorea wird in Europa kaum zur Kenntnis genommen. Wer will schon K-Pop-Boys- und Girlsbands (K steht für Korea) wie etwa Big Bang mit ihrem eiskaltem Techno Beat oder Girls‘ Generation mit buntem Bubblegum-Pop hören, die Jugendliche in ganz Asien schwindelig singen? Dabei hat sich der Musikmarkt in Südkorea im Zuge einer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten zehn Jahren immer weiter professionalisiert und ein eigenes Standing gewonnen.

Youn Sun Nah hat sich schon sehr früh von all dem abgesetzt und zu einer außerordentlichen Sängerin hochgejazzt. Die 47-Jährige schwamm nie auf der perfekten Welle von Südkoreas Popkultur. Sie richtete ihren Blick nach Europa und hat ihr Land in den 1990er-Jahren verlassen. Exakt zu dem Zeitpunkt, als dort der K-Pop als Antwort zum J-Pop (J steht für Japan) entwickelt wurde. Was auf den ersten Blick wie eine Flucht aussieht, war in Wirklichkeit der Beginn einer langen musikalischen Reise, die mit ihrem inzwischen neunten und aktuellen Album She Moves on bis heute anhält. Und Youn Sun Nah kann, wie die südkoreanischen Boy- und Girlsgroups, internationale Erfolge feiern.

Jenes tiefe Gefühl für Gesang, mit dem nicht nur der Kopf, sondern vor allem das Herz eines Zuhörers nachhaltig erreicht wird, gelingt nur wenigen. Youn Sun Nah, Tochter eines Dirigenten und einer Sängerin, hat diesem Gefühl bei ihrem Studium im Centre d’Informations Musicales, einer 1976 in Paris gegründeten Musikschule für Jazz und Populärmusik, nachgespürt. Den Spirit of Jazz verinnerlichte sie, zunächst noch zögerlich, mit Songs von Billie Holiday, Ella Fitzgerald und Nat King Cole. Hinzu kamen Chansons von Edith Piaf, Yves Montand und Jacques Brel.

Spiel mit der Stimme

In ihrem Song Momento Magico aus dem Album Lento kommt dieser jahrelange Entwicklungsprozess, dem sie längst entwachsen ist, in voller Blüte zum Tragen. Es ist eine Reise durch alle Stile und in alle Richtungen, Sie singt schwindelerregend notengenau mit dem Spiel der Gitarre mit und fügt eigene Zwischentöne ein. Sie kann Melodien genau so gut wie die Lautstärke ohne Kraftanstrengung variieren. Youn Sun Nah deckt mühelos das ganze Spektrum vom Sopran bis zum Bass ab, haucht wie Marilyn Monroe, und ihr Spiel mit der Stimme steht dem von Kate Bush und dem im Februar verstorbenen Al Jarreau in nichts nach.

Kein Wunder, dass sich die südkoreanische Sängerin nicht nur im Jazz zuhause fühlt. Sie setzt ihre Reise beständig fort, lotet aus, forscht in anderen Soundgefilden, covert Metallica und Nine Inch Nails. Als sie zum ersten Mal den spröden und zerbrechlichen Gesang von Tom Waits gehört hat, vermutete sie allerdings einen technischen Fehler in ihrer Anlage.

Das neue Album She Moves on, benannt nach einem Titel von Paul Simon, ist eine weitere Station auf der musikalischen Durchreise von Youn Sun Nah. Sie hat sich von Europa in Richtung Amerika aufgemacht, um nach vier Jahren Pause mit Musikern aus New York das neue Album zu produzieren. Der Wechsel des Kontinents wirkt sich dann auch auf das Repertoire aus, weg vom europäisch geprägten Jazz hin zum amerikanischen Jazz, zum Folk – und überraschenderweise auch zur Rockmusik. Dies schlägt sich in Drifting von Jimi Hendrix nieder. Posthum auf der LP Cry of Love 1971 veröffentlicht, wird der Hendrix-Song oft als spirituelle Komposition eingeordnet. Youn Sun Nah entfaltet in ihrer Interpretation eine emotionale Tiefe, die durch die ausufernde Gitarre von Marc Ribot verstärkt wird. Ribot wiederum kann auf eine lange Zusammenarbeit mit Tom Waits sowie mit John Luries Lounge Lizards zurückblicken. Genauso stark bereichert Organist Jamie Saft das Musikkonzept, das coole Teach The Gifted Children von Lou Reed und The Dawntreader von Joni Mitchell scheinen wie für ihn geschaffen. Die Aufbereitung der Klassiker wird von Youn Sun Nah durch zwei eigene Kompositionen ergänzt. Durch das von Bassist Brad Jones und Drummer Dan Riester bestimmte Intro Travaller, mit dem sie einen Hinweis auf ihre Vielseitigkeit gibt, und das hingehauchte swingende Evening Star mag zum Schluss nach Mainstream klingen. Beide Songs zeigen aber, wohin die Reise der Südkoreanerin noch gehen kann.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 2. September 2017 von in Hirnfutter und getaggt mit , , , , , , , , , , , , .

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